// Trauma
Das Trauma
Traumatische Erlebnisse, allen voran sexuelle Ausbeutung in der Kindheit, haben oft schwerwiegende Folgen. Was aber ist ein Trauma? Wie fühlen sich Menschen, die ein Trauma erlitten haben? Was geschieht im Körper? Wie geht die Psyche damit um? Und wie beeinflusst dies alles die Beratung von Klientinnen und Klienten?
Regula Schwager, Mitarbeiterin CASTAGNA, aus Themenheft 2010 «Beratung von traumatisierten Jugendlichen»
Kennzeichen traumatischer Erfahrungen
Traumatische Erlebnisse sind einschneidende Erfahrungen, die kein Mensch einfach so wegstecken kann. Jeder Mensch verarbeitet Erlebnisse auf seine eigene Art und in seinem persönlichen Tempo. Traumatisch wird eine Erfahrung, wenn eine Situation unsere Verarbeitungsfähigkeit übersteigt und unseren seelischen «Reizschutz» überlastet. Wir sind ihr ausgeliefert und fühlen uns ohnmächtig. Ohnmacht,Todesangst und Hilflosigkeit sind die Gefühle, welche die grösste Gefahr einer Traumatisierung in sich bergen.

Im Kindesalter sind sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Vernachlässigung unbestritten traumatisch. Manchmal werden Kinder durch Erlebnisse traumatisiert, die wir Erwachsene als harmlos einstufen. Dabei spielt die momentane Stabilität des Kindes eine grosse Rolle. Auch scheinbar «kleine» Erlebnisse können deshalb grosse Folgen haben. Für Kinder sind traumatische Erfahrungen besonders schlimm, weil sie noch nicht über voll ausgebildete innere Schutz- und Verarbeitungsmöglichkeiten verfügen.

In die Beratungsstelle CASTAGNA kommen (fast) ausschliesslich Jugendliche, die durch sexuelle Gewalt im Kindes- oder Jugendalter traumatisiert wurden. Meist wurden sie durch nahe Bezugspersonen ausgebeutet. Bei der Verarbeitung eines Traumas spielen Wertesysteme und der soziale Kontext eine grosse Rolle. Ein Kind, welches von einem Fremden misshandelt wurde, kann daher seine traumatischen Erlebnisse meist einfacher verarbeiten als ein Kind, welches im engsten Familienkreis ausgebeutet wurde. Das ist am schlimmsten – durch Menschen, die wir lieben und denen wir vertrauen, missbraucht, bedroht, verraten, verletzt und gedemütigt zu werden.

Verbreitung von Traumaerfahrungen
Traumata sind weit verbreitet. Bis zu 75 % der Menschen machen im Laufe ihres Lebens eine traumatische Erfahrung und etwa 25 % von ihnen entwickeln eine Traumafolgestörung. Einige Menschen scheinen selbst schwere Traumata «wegzustecken», zeigen irgendwann später aber, wenn eine erneute Belastung auf sie zukommt, traumatische Symptome, die auf das damalige Ereignis zurückzuführen sind und die darauf hinweisen, dass die damaligen Traumata nicht verarbeitet werden konnten.
Einige Wochen bis Monate nach einer traumatischen Erfahrung erscheinen viele Menschen geheilt. Etwa ein Drittel der Betroffenen erholen sich spontan, wobei Opfer von Raubüberfällen und Verkehrsunfällen sich eher spontan erholen als Opfer von sexuellen Attacken. Ein weiteres Drittel der Traumabetroffenen erscheint auf den ersten Blick gesund
und wirkt auch, als ob sie gut im Leben zurechtkommen würden. Dieser Eindruck hält aber nur so lange an, bis ein belastendes Ereignis auftritt. Insbesondere Situationen, die mit Ohnmachtsgefühlen einhergehen, können bei diesen Menschen das frühere Trauma reaktivieren, sodass sie die gleichen Symptome zeigen wie die Gruppe Betroffener, die
sich ohne Intervention gar nicht vom traumatischen Erlebnis erholen konnten.

Der Begriff «Trauma» (griech.) bezeichnet eine körperliche oder seelische «Verletzung», bei der die traumatisierte Person selbst Opfer oder Zeugin eines Ereignisses war,
  • bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht war oder das eine ernste Verletzung zur Folge hatte und
  • das bei der Person intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen auslöste.

Körperliche Reaktionen
Traumatische Erlebnisse lösen Stressreaktionen aus. Um zu überleben, geraten Körper und Geist in Alarmbereitschaft. Im Gehirn verhindert grosse Angst die assoziative Verknüpfung von neuer Information mit bereits Bekanntem. Die Hirnareale, welche für die Verarbeitung von Erlebnissen zuständig sind, arbeiten in dieser Situation also nicht zusammen. Dadurch bleiben traumatische Erlebnisse zwar im Gedächtnis haften, können aber nicht in einen grösseren Zusammenhang gebracht werden. Es entstehen ausgeprägte Erinnerungslücken (Amnesien). Vorhandene Erinnerungen werden in «Stücken» als starker Gefühlszustand zusammen mit körperlichen Reaktionen und Bildern gespeichert. Traumatische Erinnerung ist somit fragmentierte Erinnerung. Dies erklärt, weshalb Menschen, die traumatisiert wurden, oft keine zusammenhängenden, vollständigen Erinnerungen an das traumatische Geschehen haben.
Akuter Stress führt über die Freisetzung von Botenstoffen zu einer Erhöhung von Blutdruck und Puls; die Durchblutung von Muskeln und Gehirn wird intensiviert, die Verdauung, das Immunsystem und andere Körperfunktionen werden gehemmt. Bei anhaltendem Stress bleiben die Stresshormone ständig erhöht, was die Entwicklung diverser körperlicher Langzeitfolgen begünstigt.

Angst verändert nicht nur den Körper, sondern sie engt auch das Denken ein. In einer akuten Stressreaktion werden körpereigene Stoffe freigesetzt, welche zu einer Art Betäubung oder Erstarrung führen. Die Schmerzwahrnehmung wird gehemmt. Diese Reaktion erlaubt dem Organismus, eine Extrembelastung ohne klares Bewusstsein zu überleben und die traumatische Erfahrung nicht exakt zu erinnern.

Seelische Reaktionen
Jugendliche suchen unsere Beratungsstelle auf, weil sie als Kinder oder Jugendliche sexuell ausgebeutet wurden oder noch werden. Sie brauchen Unterstützung, weil sie in ihrem Lebensalltag unter zum Teil massiven Einschränkungen leiden. Zu den Hauptbeschwerden hinzu kommen diverse Traumafolgeerscheinungen. Am häufigsten sind dies folgende Symptome:

Ohnmachtsgefühle: Sie sind allgegenwärtig, weil die Person der traumatisierenden Situation hilflos ausgeliefert war und keine Kontrolle darüber hatte, was mit ihr geschah.

Stress: Übererregungssymptome sind durch die chronische Stressreaktion bedingt. Betroffene sind ständig in Alarmbereitschaft. Dies äussert sich in Unruhe, erhöhter Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Erschöpfung und geringer Belastbarkeit.

Intrusionen: Das traumatische Erlebnis wiederholt sich ständig in der Erinnerung und es wird in Form von Bildern, Alpträumen, Körperempfindungen und Gefühlen immer wieder erlebt.

Vermeidung: Traumatisierte Personen vermeiden mit aller Kraft Erinnerungen an das Trauma und meiden daher Orte, Menschen und Situationen, die eine solche Erinnerung und die damit  verknüpften Gefühle auslösen könnten. Denn die Erinnerung an die belastenden Ereignisse birgt das Risiko einer Retraumatisierung.

Ängste und Panikgefühle: Menschen mit einer Traumatisierung leiden oft unter Ängsten. Diese können generalisiert auftreten, d. h. ohne direkten Auslöser, oder sie können als Folge von Erinnerungen an das Trauma panikartigen Charakter annehmen bis hin zu Todesangst.

Emotionale Betäubung: Die Fähigkeit eines Menschen, Gefühle und Empfindungen bei allzu belastenden Erlebnissen einzudämmen, ist ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus. Dieses Phänomen gehört zu den dissoziativen Folgeerscheinungen.

Dazu kommen häufig ausgedehnte Amnesien (Gedächtnisverlust), Suizidalität, Selbstverletzung, Vertrauensverlust und Beziehungsprobleme. Ausser verschiedenen dissoziativen Störungen tritt bei den chronischen Traumafolgestörungen zudem vor allem die Posttraumatische Belastungsstörung (einfache und komplexe PTBS) auf.

Frühe Traumatisierungen graben sich tief in Körper, Geist und Seele eines jungen Menschen ein. Bei aller Betroffenheit, die auch wir als Fachpersonen immer wieder spüren und verarbeiten müssen, wenn wir eine Geschichte erfahren, erleben wir in der Arbeit mit ihnen doch täglich, über welch erstaunliche Kräfte der Heilung und Regeneration speziell Jugendliche und Kinder verfügen. Aus dieser Erfahrung schöpfen wir selbst neue Kraft und die Gewissheit, dass das, was wir tun, Sinn macht  – eben nicht nur, weil wir das hoffen, sondern weil wir das Aufatmen manchmal selbst miterleben dürfen.

Merksätze zur Beratung von Menschen mit Trauma
Kontrolle zu ermöglichen, ist der wichtigste Grundsatz im Umgang mit Menschen, die in einem traumatisierenden Ereignis die Kontrolle über das, was mit ihnen geschieht, verloren haben. Eine Klientin/ein Klient soll deshalb sowohl über Beratungsinhalte, die Bedeutung der Symptome als auch über jeden Schritt, den wir mit ihr zusammen tun wollen, informiert werden.

Wir achten sorgfältig darauf, die Grenzen unserer Klientinnen und Klienten zu respektieren, und helfen ihnen, diese selbst zu schützen. Denn grenzverletzte Menschen haben verletzte Grenzen. Daher bestimmen sie, wie weit sie gehen möchten und was sie wollen; sie entscheiden, was sie von unseren Angeboten annehmen wollen.

Der wichtigste Teil in der Beratung von Klientinnen und Klienten mit einer Traumatisierung ist ihre Stabilisierung. Bei der psychischen Stabilisierung lernt die Klientin/der Klient Techniken und Hilfsmittel kennen, die ihr/ihm helfen, im Hier und Jetzt zu bleiben und nicht mehr von Gefühlen überschwemmt zu werden, die zum Trauma-Erleben gehören.

In der Beratung muss eine Retraumatisierung verhindert werden. Es besteht sonst die Gefahr, dass betroffene Menschen durch die Schilderung ihrer traumatischen Ereignisse erneut traumatisiert werden. Deshalb gehört die Traumakonfrontation in die Traumatherapie und wird erst durchgeführt, wenn die betroffene Person psychisch stabil ist und nicht mehr dissoziiert.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Beratung und Behandlung ist die Schaffung äusserer Sicherheit. Denn ein Mensch, der sich real bedroht fühlt, kann sich psychisch nicht stabilisieren.

Menschen mit Traumatisierungen haben viele Ressourcen. Sie haben die schlimmsten Torturen und Qualen überlebt – dies zeugt von einer riesigen Überlebenskraft. Diese Kraft soll gefördert werden.