AUFBAU EINER BERATUNGSSTELLE FÜR BETROFFENE VON 1989 BIS 1992
Es ist eine besondere Herausforderung für mich, nach über 20 Jahren einen kleinen Eindruck über die Entstehung und die damalige Aufbauarbeit der Beratungsstelle CASTAGNA zu schreiben. Ich habe in meinen Unterlagen nach alten Dokumenten gesucht und habe einen kurzen Text gefunden, den ich im Jahr 1990 in Zusammenhang mit dem Aufbau der Beratungsstelle CASTAGNA geschrieben hatte. Die Zeilen vermitteln einen kleinen Einblick in die Fakten und in den ideellen Hintergrund der damaligen Projekt- und Aufbauarbeit, die von 1989 bis 1992 von einer Gruppe von Frauen geleistet wurde. Einige Frauen waren von Beginn bis zur Eröffnung im Jahr 1992 dabei, andere begleiteten uns für Teilstrecken auf unserem Weg.
Beim Lesen dieses Textes ziehen viele Bilder an mir vorbei. Ich sehe junge, offene Gesichter, voller Elan, begeistert von feministischem Gedankengut! Wir diskutieren an Sitzungen, mit heissen Köpfen und offenem Herzen – streitlustig, empört, traurig, wütend, freudig und voller Begeisterung, endlich etwas bewirken zu wollen, endlich dem Schweigen ein Ende zu setzen, Tabus aufzubrechen und all den Kindern und Jugendlichen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, eine Möglichkeit zu bieten, Hilfe zu holen.
Wir vernetzen uns mit anderen bereits bestehenden Frauenprojekten und besuchen Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema «sexuelle Gewalt», lesen Fachliteratur und vertiefen uns in Projektbeschriebe bereits bestehender deutscher Beratungsstellen. An Retraiten diskutieren wir unsere neu gewonnenen Erkenntnisse und entwerfen ein Projekt für eine Beratungsstelle in Zürich. Wir starten mit Öffentlichkeitsarbeit, um auf unser Vorhaben aufmerksam zu machen, halten Vorträge und Seminare und versuchen, finanzielle Mittel aufzutreiben. An vielen Wochenenden schreiben wir unermüdlich Briefe und Gesuche an private und öffentliche Institutionen, mit der Bitte um finanzielle Unterstützung. Trotz vieler Absagen lassen wir uns nicht entmutigen.
Manchmal ist es für uns nicht einfach, für ein Thema einzutreten, das niemand hören will, das uns angreifbar macht. Immer wieder werden wir mit unserem Anliegen nicht ernst genommen und als Emanzen abgewertet. Die Unterstützung anderer, bereits bestehender Frauenprojekte hilft uns sehr, ebenso unsere gegenseitige Solidarität. Wir lachen, schwatzen, kochen, essen zusammen, trinken Wein, gehen spazieren, ziehen uns auch für Tage in die Berge zurück. Wir führen unter uns feministische Grundsatzdiskussionen, ganz existenziell, oft hitzig, bis die Tränen fliessen, wenn wir uns nicht einigen können. Wir sind im Aufbruch, haben alle noch keine Erfahrung darin, Verschiedenheiten anerkennen zu können. Differenzen erleben wir noch sehr schnell als bedrohlich. Unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen führen auch zu schmerzlichen Trennungen innerhalb der Gruppe und konfrontieren uns mit der Realität, dass auch wir Frauen nur Menschen sind …
Im Sommer 1990 gründen wir einen Verein. Besonders beglückt sind wir, als uns im Herbst wie ein Geschenk der Name der zukünftigen Beratungsstelle zufällt. Eine Gruppe betroffener Frauen organisiert im Frauenstock des Kanzleizentrums eine Ausstellung mit Bildern und Texten zu ihrer persönlichen Überlebensgeschichte. Wir unterstützen die Frauen beim Aufbau und der Betreuung der Ausstellung.
Die Kastanienbäume verlieren gerade ihre Blätter im Herbstwind und erste Kastanien fallen zu Boden. Einige der Früchte liegen noch fest umschlossen und versteckt in ihren grünen Schutzhüllen. Andere sind bereits zu sehen, ihre Hüllen haben sich geöffnet. Einige Kastanien sind aus ihren stacheligen Behausungen herausgekollert und liegen in ihrer vollen Pracht auf der Erde. Mit Herbstblättern und Kastanien schmücken wir nun die Ausstellungsräume im Frauenstock. Die braun glänzenden Früchte, die wie Schätze von ihren schützenden und sich langsam öffnenden Hüllen umschlossen sind, passen wunderbar zu den Bildern und Texten der überlebenden Frauen. Die Idee entsteht, den Verein und die zukünftige Beratungsstelle «CASTAGNA» zu taufen. Die Kastanie, die in sich die Kraft trägt, einen neuen Baum entstehen, wachsen zu lassen und zum Blühen zu bringen, wird so zum Symbol des Wachstums und der Hoffnung für den Verein und die Beratungsstelle.
Im Oktober 1991 stellt der Verein CASTAGNA mit den bisher gesammelten Spendengeldern eine erste Mitarbeiterin ein. Kurz darauf bewilligt der Kanton Zürich eine jährliche Unterstützung der Beratungsstelle für eine Versuchsphase von 3 Jahren. Endlich ist es geschafft, nun steht einer Eröffnung nichts mehr im Weg. Es werden zwei weitere Stellen geschaffen und die Beratungsstelle CASTAGNA wird am 11. Mai 1992 offiziell eröffnet!
Isabelle Rentsch
lic. phil. Psychotherapeutin SPV/SBAP
Spezielle Psychotraumatherapie DeGPT
Sexuelle Ausbeutung:
Aufbau einer Beratungsstelle für Betroffene
Sexuelle Ausbeutung von Kindern ist in der schweizerischen Öffentlichkeit Thema geworden. Viele Frauen haben vermehrt den Mut gefunden, über ihr Trauma und dessen Folgen zu sprechen und Hilfe zu suchen. Im Zuge dieser Entwicklung haben Fachfrauen im Januar 89 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, in Zürich eine Beratungs- und Informationsstelle für Betroffene aufzubauen. Nach eingehender Schwerpunkt- und Strategiediskussion unter Beizug einer Bedürfnisabklärung im Kanton Zürich wurde ein Konzept für den Aufbau und Betrieb einer solchen Stelle erarbeitet.
Dieses Konzept orientiert sich an den Erfahrungen der seit 1982 bestehenden Beratungsstelle «Wildwasser Berlin» und basiert auf folgenden Voraussetzungen: Sexuelle Gewalt muss im Zusammenhang mit der strukturellen Gewalt betrachtet werden, die sich in ungleichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen (sowie Kindern) äussert. Insbesondere die sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Jungen sowie deren Tabuisierung sind Ausdruck der patriarchalen Machtstruktur, welche es Frauen und Kindern praktisch verunmöglicht, sich gegen die männliche Verfügungsgewalt erfolgreich zu wehren. Diese Tatsache sowie die Symptome und Folgen sexueller Ausbeutung im physischen und psychosozialen Bereich erfordern spezifische Hilfestellung, die von Parteilichkeit für die Betroffenen geprägt ist.
Die Zielsetzung des Projekts: Die Beratungs- und Informationsstelle soll parteiliche Unterstützung und Beratung für sexuell ausgebeutete Kinder und deren Mütter, weibliche Jugendliche und in der Kindheit betroffene Frauen leisten. Fachleuten aus medizinischen, pädagogischen, sozialen und psychotherapeutischen Bereichen sollen Unterstützung und Information angeboten werden, im Interesse der Betroffenen wird konstruktiv mit anderen Institutionen und Projekten zusammengearbeitet.
Im Juni 90 gründete die Arbeitsgruppe einen Verein, der sich mit einem Gesuch um Startkredit an Stadt und Kanton Zürich wandte. Die Stadt lehnte das Gesuch wegen «Finanzknappheit» ab, beim Kanton steht die Beschlussfassung noch aus.
Wir geben jedoch nicht auf: Der Aufruf «Dem Schweigen ein Ende» kann auf Dauer nur dann sinnvoll sein, wenn spezifische Beratungs- und Informationsangebote geschaffen und finanziert werden, die parteiliches Hinhören und parteiliche Hilfestellung ermöglichen.
Isabelle Rentsch, Zürich 1990