Das Strafgesetz behandelt die Sexualdelikte unter dem Titel "Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität" (Art. 187 – Art. 200 StGB). Ausschlaggebend für die Anwendung der einzelnen Artikel sind diverse Kriterien wie das Alter des Opfers und des Täters oder der Täterin, die Beziehung zwischen Opfer und Täter oder Täterin aber auch der persönliche Entwicklungsstand bzw. kognitiveZustand des Opfers (Urteilsfähigkeit) sowie der konkrete Ablauf der Misshandlung oder des Übergriffes. Grundsätzlich soll bei Minderjährigen und Jugendlichen unter 16 Jahren deren persönliche und gesunde Entwicklung geschützt werden, zudem wie bei allen Menschen, die sexuelle Integrität und körperliche und kognitive Unversehrtheit.
Offizialdelikte und Antragsdelikte
Alle schweren Sexualstraftaten sind sogenannte Offizialdelikte (Ausnahme: sexuelle Belästigung, Exhibitionismus). Das bedeutet, dass die Polizei ein Strafverfahren eröffnen muss, wenn sie von einem Sexualdelikt erfährt. Bei diesen Offizialdelikten genügt es, wenn das Opfer oder eine andere Person die Tat einer Polizistin oder einem Polizisten mitteilt. Man spricht dabei von einer Strafanzeige. Damit wird eine Strafuntersuchung ausgelöst.
Bei Antragsdelikten (zum Beispiel einfache Körperverletzung oder sexuelle Belästigung) wird die Polizei nur dann aktiv, wenn das Opfer einen Strafantrag gegen den Täter oder die Täterin stellt. Jede Polizistin und jeder Polizist ist verpflichtet, einen Strafantrag entgegenzunehmen. Bei der Polizei gibt es auch entsprechende Formulare. Zu beachten ist, dass das Opfer den Strafantrag innerhalb von drei Monaten einreichen muss. Diese Frist beginnt zu laufen, sobald das Opfer Kenntnis vom Täter oder der Täterin hat.
Sowohl beim Strafantrag als auch bei der Strafanzeige muss das Opfer nicht wissen, wie die zur Diskussion stehende Straftat im Gesetz heisst. Das Opfer erzählt nur, was passiert ist. Es ist auch nicht Aufgabe des Opfers, den Täter oder die Täterin zu überführen. Der Staat muss dem Täter oder der Täterin die Schuld nachweisen. Das Opfer ist aber ein wichtiger und häufig der einzige Zeuge. Vor Gericht ist es auch nicht das Opfer, das den Täter oder die Täterin anklagt; diese Aufgabe fällt der Staatsanwaltschaft zu. Die Staatsanwältin oder der Staatsanwalt tritt als Gegenpartei des Angeklagten oder der Angeklagten auf.
Ausgewählte Sexualdelikte des Schweizerischen Strafgesetzes
Nachstehend werden einige Sexualdelikte, die leider häufig vorkommen, umschrieben:
Sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 StGB): Dieser Artikel umfasst sämtliche Handlungen mit Kindern unter 16 Jahren. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Art die Handlungen sind: Verboten sind beispielsweise Vaginal-, Anal- und Oralverkehr, Zungenküsse, das längere und intensive Betasten weiblicher und männlicher Genitalien etc. Unerheblich ist dabei, ob die Initiative vom Kind ausgeht. Wendet der Täter oder die Täterin Gewalt an, um die sexuellen Handlungen vornehmen zu können, wird er oder sie zusätzlich wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung bestraft (vgl. weiter unten). Bei sexuellen Handlungen mit Kindern handelt es sich um ein Offizialdelikt. Sexuelle Handlungen unter Kindern und Jugendlichen sind nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten weniger als drei Jahren beträgt und die Handlungen freiwillig geschehen.
Sexuelle Handlungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB): Nach diesem Gesetzesartikel wird bestraft, wer sexuelle Handlungen mit einer abhängigen Person im Alter zwischen 16 und 18 Jahren vornimmt. Auf Seiten des Opfers spielt also wieder das Alter eine entscheidende Rolle. Zusätzlich muss dabei aber zwischen den Beteiligten ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen, das der Täter oder die Täterin bewusst ausnützt. Diese Abhängigkeit kann in einem Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis (zu denken ist vor allem an das Lehrverhältnis) bestehen oder sich auch aus sportlichen, kulturellen oder religiösen Aktivitäten ergeben (Trainer/Trainerin, Coach, Leiter/Leiterin etc.). Wird hingegen eine erwachsene Person missbraucht, die vom Täter oder der Täterin abhängig ist oder sich in einer Notlage befindet (Anstaltspfleglinge, Gefangene oder Ähnliches), handelt es sich um eine sexuelle Handlung, die nach Art. 193 StGB bestraft wird. Beide Straftaten sind Offizialdelikte.
Sexueller Übergriff (Art. 189 Abs I StGB): Unter einem sexuellen Übergriff versteht das Gesetz, eine sexuelle Handlung des Täters oder der Täterin gegen den Willen des Opfers, unabhängig von dessen Alter. Das Opfer muss ausdrücken, dass es die sexuelle Handlung nicht gewollt hat («Nein ist nein»). Es kann auch sein, dass das Opfer in einen Schockzustand fällt («freezing») und nicht in der Lage ist, seinen Willen auszudrücken, auch dies ist ein sexueller Übergriff. Ein sexueller Übergriff liegt vor, wenn weder physische noch psychische Gewalt angewendet wird, das Opfer sich der sexuellen Handlungen bewusst ist und kein Eindringen in den Körper des Opfers erfolgt.
Sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. II StGB): Bei der sexuellen Nötigung spielt das Alter des Opfers keine Rolle. Der Täter oder die Täterin zwingt das Opfer – egal ob Kind, Jugendliche oder Erwachsene – zu sexuellen Handlungen, die gegen den Willen des Opfers erfolgen («Nein ist nein»). Dabei muss physische oder psychische Gewalt angewendet werden, um die sexuelle Handlung vornehmen zu können, oder das Opfer anders zum Widerstand unfähig gemacht werden. Denkbar sind alle sexuellen Handlungen, ohne jedoch in den Körper des Opfers einzudringen. Auch die sexuelle Nötigung ist ein Offizialdelikt. Bei Kindern und Jugendlichen bis 18-jährig können sexuelle Handlungen gegen deren Willen zusätzlich zu «sexuellen Handlungen mit Kindern als sexuelle Nötigung eingeordnet werden, wenn zwischen Täterschaft und Opfer ein sehr starkes Vertrauens- oder Machtverhältnis besteht, welches bewusst ausgenutzt wird (z.B. Täterschaft aus dem familiären Kreis).
Vergewaltigung I (Art. 190 Abs. I StGB): Auch bei der Vergewaltigung spielt das Alter oder das Geschlecht des Opfers keine Rolle. Bei der Vergewaltigung dringt der Täter oder die Täterin mit seinem Geschlechtsteil oder einem anderen Körperteil oder Fremdkörper in eine Körperöffnung des Opfers ein (vaginal, anal, oral). Wiederum entscheidend ist, dass dies gegen den Willen des Opfers geschieht («Nein ist nein») oder wenn sich das Opfer in einem Schockzustand befindet («freezing»).
Vergewaltigung II (Art. 190 Abs II StGB): Es gilt dasselbe wie beim vorstehenden Artikel, mit dem Unterschied, dass der Täter oder die Täterin Gewalt (psychisch und/oder physisch oder auf andere Weise) anwendet und das Opfer widerstandsunfähig macht. Zu denken ist an schwere Drohung oder an das heimliche Verabreichen von K.-o.-Tropfen, die dem Opfer vom Täter oder von der Täterin ins Getränk gemischt werden, um danach den Geschlechtsverkehr ohne Widerstand und gegen den Willen des Opfers vollziehen zu können.
Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person (früher "Schändung") (Art. 191 StGB): Die sogenannte Schändung unterscheidet sich von sexueller Nötigung und Vergewaltigung im Wesentlichen dadurch, dass der Täter oder die Täterin ein Opfer missbraucht, welches bereits widerstandsunfähig ist oder afugrund seines jungen alters die Bedeutung von Sexualität nicht erfassen kann Das Opfer ist grundsätzlich nicht im Stande, sich gegen ungewollte sexuelle Kontakte zu wehren. Die Täterin oder der Täter nützen bei der Schändung diese Widerstandsunfähigkeit aus, bei der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung führen sie hingegen die Widerstandsunfähigkeit herbei und nützen dann das Opfer aus. Bei der Schändung kann der Grund für die Widerstandsunfähigkeit dauernd, wie beispielsweise bei psychisch beeinträchtigt Personen, oder vorübergehend sein, wie beispielsweise beim Ausnützen einer betrunkenen oder bewusstlosen Person. Die Art der sexuellen Handlungen spielt dabei keine Rolle. Es handelt sich auch um ein Offizialdelikt.
Ausnützung einer Notlage oder Abhängigkeit (Art. 193 StGB): Der Täter oder die Täterin nützt dabei ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zum Opfer aus (Therapie, Arbeitgeber/-in, Vorgesetzte/-r, Vermieter/-in etc.) oder eine Notlage (psychisch, finanziell, aufenthaltsrechtlich etc.), um sexuelle Handlungen «in gegenseitigem Einvernehmen» am Opfer vorzunehmen.
Täuschung über den sexuellen Charakter einer Handlung (Art. 193a StGb): Dieser Artikel kommt nur zur Anwendung, wenn es sich bei der Täterschaft um Personen handelt, welche beruflich oder ausserberuflich, aber organisiert (z.B. Nothelferkurs) im Gesundheitsbereich tätig sind (Medizinalpersonen, Therapeut/-innen, Kursleiter/-innen etc.). Diese täuschen bei ihren Handlungen das Opfer über den sexuellen Inhalt. Z.B. ein Physiotherapeut oder eine Physiotherapeutin massiert Körperöffnungen des Opfers ohne medizinische oder therapeutische Grundlage, bzw. unter der falschen Behauptung, dass dies medizinisch notwendig sei.
Exhibitionismus (Art. 194 StGB) & Sexuelle Belästigungen (Art. 198 StGB): Exhibitionisten sind in der Regel Männer. Sie haben die krankhafte Sucht, ahnungslosen Opfern überraschend ihren Penis zu zeigen, häufig in erigiertem Zustand und häufig verbunden mit Masturbation (Reiben des Gliedes).
Auch die sexuelle Belästigung ist gegen Personen gerichtet, welche die vorgenommene sexuelle Handlung nicht erwarten. Der Täter oder die Täterin kann dabei tätlich vorgehen, indem es zu körperlichem Kontakt kommt: Betastungen der Brüste, Griff in die Gegend der Geschlechtsteile oder an das Gesäss, Streicheleien oder Ähnliches. Aber auch die verbale Belästigung ist strafbar, wie beispielsweise das Verwenden stark vulgärer (unanständiger) Ausdrücke, Äusserungen hinsichtlich der Geschlechtsteile oder des Sexuallebens des Opfers. Zudem kann auch das Zusenden obszöner Fotos per Handy als sexuelle Belästigung gelten.
Im Gegensatz zu den übrigen Sexualdelikten werden Exhibitionismus und sexuelle Belästigung nur bestraft, wenn das Opfer einen Strafantrag stellt. Es handelt sich also um Antragsdelikte.
Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB): Auch dieser Gesetzesartikel schützt das sexuelle Selbstbestimmungsrecht; allerdings geht es beim Opfer um Personen, die sich prostituieren. Bestraft wird, wer eine Person der Prostitution zuführt, die unmündig (also noch nicht 18-jährig) ist oder in einer Abhängigkeit zur Täterschaft steht. Auch ist die Zuhälterei verboten, also eine Prostituierte oder einen Prostituierten zu einem Freier oder Freierin zu schicken, um ihr/ihm danach das Geld abzunehmen oder die Person einzuschränken, indem sie bei dieser Tätigkeit überwacht wird oder Ort, Zeit, Ausmass oder andere Umstände der Prostitution bestimmt werden. Opfer können auch Personen sein, die in der Prostitution festgehalten werden, obwohl sie dieser Tätigkeit nicht oder nicht mehr nachgehen wollen. Die Förderung der Prostitution ist ebenfalls ein Offizialdelikt.
Inzest (Art. 213 StGB): Mit Artikel 213 will das Gesetz vor allem die Familie schützen. Verboten ist der Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten, also beispielsweise Grossvater mit Enkelin oder Mutter mit Sohn oder aber auch der Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern. Beim Inzest handelt es sich um ein Offizialdelikt. Nicht verboten ist der Geschlechtsverkehr zwischen Cousine und Cousin; natürlich gelten aber auch hier die übrigen Verbote (Einwilligung, Alter, keine Gewalt etc.).
Der volle Wortlaut all dieser Gesetzesartikel findet sich auf folgender Internetseite:
https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de
Verjährung von Sexualdelikten
Art. 101 StGB hält fest, dass keine Verjährung Eintritt bei Kindern unter 12 Jahren, wenn sie Opfer eines der folgenden Delikte geworden sind:
- bei sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1)
- sexuelle Nötigung (Art. 189)
- Vergewaltigung (Art. 190)
- Schändung (Art. 191)
- sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten (Art. 192 Abs. 1)
- Ausnützung der Notlage (Art. 193 Abs. 1)
Dies gilt, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 30. November 2008 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war.
Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren verjähren frühestens mit Erreichen des 25. Lebensjahres des Opfers. So hat das Opfer nach Erreichen der Mündigkeit noch mindestens sieben Jahre Zeit, um eine Anzeige zu erstatten. Die Verjährungsregeln sind sehr kompliziert; es empfiehlt sich, eine spezialisierte Beratungsstelle um Rat zu fragen.
Bei den übrigen Sexualdelikten hängt die Verjährungsfrist von der Strafe ab, mit der die Tat bedroht ist. Droht eine Strafe von mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe, beträgt die Verjährungsfrist 15 Jahre. Das trifft auf die sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB), die Vergewaltigung (Art. 190 StGB), die Schändung (Art. 191 StGB) und die Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB) zu, bei welchen die Täter und Täterinnen überall zu Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden können. Alle übrigen Sexualdelikte verjähren nach zehn Jahren.
Die Verjährungsfrist beginnt mit der Straftat oder mit dem Tag, an dem eine wiederholte oder andauernde Straftat aufhört oder zum letzten Mal ausgeführt wird. Spricht ein Gericht gegenüber Täter oder Täterin innerhalb von 15 beziehungsweise zehn Jahren ein Urteil aus, kann keine Verjährung mehr eintreten. Der Täter oder die Täterin kann also nicht das Urteil eines Gerichts bei der nächsten Instanz anfechten und so das Verfahren in die Länge ziehen, um am Ende einer Strafe zu entgehen.
Im Jugendstrafrecht gelten kürzere Verjährungsfristen und die absolute Unverjährbarkeit von sexuellen Handlungen an unter 12 Jährigen kommt nicht zur Anwendung. Aber im Jugendstrafrecht gilt grundsätzlich, dass Taten gegen Kinder und Jugendliche Opfer nicht verjähren, solange diese nicht 25 Jahre alt sind.
Zu beachten ist, dass Straftäter und Straftäterinnen, welche Taten als Unmündige verübt haben, nicht mehr bestraft werden können, wenn diese 25 Jahre alt sind (Art. 37 Abs. 2 JStG).